Sonntagskind
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Jener 19. September, an dem ich geboren wurde, soll ein Sonntag gewesen sein. Als ich in einem Alter war, in dem ich die Bedeutung dieses Ausspruches erfassen konnte, wiederholte ihn meine Mutter gelegentlich, um mir seinen Sinn zu verdeutlichen: Sonntagskinder sind Glückskinder. Das Glück ist ihnen gewissermaßen in die Wiege gelegt, und die sonntägliche Geburt ist die Garantie dafür, dass es den neuen Erdenbürger ein Leben lang begleitet.
Anfangs sagte sie es mir mit einem verschwörerischen Ton, so, als teile sie mir ein Geheimnis mit. Später raunte sie es mit flüsternder Stimme, und es klang wie ein Versprechen.
Allerdings machte ich mir um diesen Umstand wenig Gedanken, denn ich war von Anfang an von glücklichen Umständen umgeben und hielt sie in meiner kindlichen Vorstellung für selbstverständlich. Ich kannte keine anderen.
Wir waren fünf Geschwister. Alles Jungs. Der Jüngste von allen war ich. Natürlich wurde ich ein wenig verwöhnt und gehätschelt. Meine Mutter war Chefsekretärin eines republikweit bekannten Betriebes. Vater arbeitete als stellvertretender Bereichsleiter in einem ebenfalls bedeutenden Werk, das Eisen und Stahl produzierte und mit einer modernen Technologie ausgerüstet war.
Das Wohlgefühl meiner Kindheit teilte ich mit meinen Brüdern. Der Bolzplatz befand sich gleich hinterm Haus, und in der Fußballmannschaft unserer Clique stellten wir die Hälfte der Spieler.
Irgendwann begann unser Glücksgebäude zu bröckeln, und tiefer werdende Risse bedrohten es. Die Last der Kindererziehung ruhte auf meiner Mutter, einer schlanken, zierlichen Frau. Vielleicht wuchsen meinem Vater berufliche Probleme über den Kopf, und für die Familie blieb keine Zeit mehr. Ich vermutete das. Er begann zu trinken. Der früher ruhige, kleine, stämmige Mann wurde reizbar und aufbrausend. Bald trank er mehr als er vertragen konnte. Das Trinken wurde zur Sucht. Die zunehmende Aggressivität verängstigte Mutter und uns Kinder. Aus den verbalen Auseinandersetzungen mit Ehefrau und Kindern wurden – ich drücke mich mal vorsichtig aus – solche mit körperlichen Einwirkungen. Mutter riet ihm zu einer Entziehungskur.
Aus uns Jungen waren unterdessen Jugendliche geworden. Wir klammerten uns an die Mutter. Unsere Eltern wurden nach ihrer Silberhochzeit geschieden. Unsere Bindungen zum Trinker lösten sich auf. Jetzt kamen wir mit unseren Problemen zur überlasteten Mutter. Aber auch mein Verhältnis zu den Brüdern änderte sich.
Zu dreien von ihnen habe ich heute keine Kontakte mehr. Für einen hatte ich einen Kredit aufgenommen, aber er zahlte ihn mir nicht zurück. Ich haftete für seine Schulden. Mein Lohn wurde gepfändet. Einer meiner Brüder wohnt mit seinen 44 Jahren noch immer bei Mutter. Da beide befürchteten, dass sie mit mir als dritter Person im Haushalt weniger Hartz IV-Unterstützung bekämen, musste ich die mütterliche Wohnung verlassen.
Das war 2005.
Aber ich bin jetzt gedanklich vorausgeeilt. Darum zurück zu meinem Leben als Sonntagskind. Das Schicksal schien jedoch vergessen zu haben, welches Recht mir als Sonntagsgeborenem zustand. Zunächst aber konnte ich mich nicht beklagen. Den Abschluss der zehnten Klasse erreichte ich ohne Mühe. Durch die Berufe meiner Eltern waren wir privilegiert: Über ihre Betriebe bekamen wir Gelegenheit, die Ferien im Stahlwerkerheim in Binz an der Ostsee oder in einem Bungalow im herrlichen Moritzburg zu verbringen.
Auch sportlich lief alles bestens. Zehn Jahre spielte ich Basketball in der Mannschaft von „Stahl“. Mit der Jugendmannschaft wurden wir dreimal DDR-Meister und siegten bei Verbandsspartakiaden.
Das Stahlwerk bot mir die Möglichkeit der zweijährigen Berufsausbildung zum Instandhaltungsmechaniker. Danach arbeitete ich als Schienenschlosser beim Gleisbau im Stahlwerk.
Im Stabwalzwerk drüben arbeiteten Gefangene aus dem in der Nähe befindlichen Gefängnis. Eine Amnestie brachte den meisten von ihnen die Freiheit und dem Werk die Sorge fehlender Arbeitskräfte. Ich meldete mich für die Arbeit an den Richtmaschinen. Für die schwere körperliche Arbeit in vier Schichten bekam ich monatlich 300 Mark extra auf die Hand. Ein Glücksfall.
Und dann kam der Einberufungsbefehl. Ich wurde zur NVA, zur Nationalen Volksarmee eingezogen. Das war aus mehreren Gründen nichts für mich. 1989 desertierte ich mit neun Kumpels , und wir kamen ins Auffanglager nach Gießen. Jetzt war ich im Westen, wo bekanntlich das Glück der Deutschen wohnte. Vom Lager aus wurde ich nach Bremen vermittelt. Zunächst hauste ich in einer zur Notunterkunft umgewandelten Sporthalle. Nach einem Monat erhielt ich eine Anstellung als Lagerarbeiter und bekam eine Wohnung.
Zwei Jahre blieb ich in der Fremde. Ja, ich blieb dort ein Fremder. Hatte weder Freunde noch Bekannte. Die Kollegen waren Westdeutsche, die unter sich blieben und den Ossi schnitten.
Die Mischung aus Enttäuschung, Verzweiflung und Wut verursachte ein unangenehmes Ziehen in meinem Magen. Vor meinen Augen zogen weißlich-graue Nebelschleier vorbei und erzeugten Schwindelanfälle in meinem Kopf. Mein Körper wurde gefühllos und kalt. Ich hatte den Eindruck, als sei meine Körpertemperatur um einige Grad gesunken.
Isolierung bedeutet Ausschluss aus der Gemeinschaft. Der Isolierte ist mit seinen Gedanken und Gefühlen allein. Einsamkeit ist wie eine Krankheit, die einen befällt. Ich bekam Heimweh. 1991 packte ich meine Sachen und zog zurück in meine Geburtsstadt Riesa.
Unterdessen hatte die politische Wende in Deutschland auch mein Leben verändert. Aber das Sonntagskind packte die neue Situation. Ich hatte Arbeit auf dem Bau. War auf Montage im Osten und im Westen unseres Vaterlandes. Seit 2000 hatte ich eine Freundin. Ein Jahr danach wurde unser Sohn geboren. Wie habe ich mich gefreut! Die plötzlich eingetretene Arbeitslosigkeit warf Schatten auf unser Familienglück.
Zu meinen 800 Euro Arbeitslosengeld kamen 165 Euro, die meine Freundin als Reinigungskraft im Krankenhaus verdiente.
Von wegen Glückskind. Allein die Miete für unsere Wohnung betrug 532 Euro. Unser Geld reichte hinten und vorn nicht. Um zu überleben, bezahlte ich keine Miete mehr. Die Mietschulden häuften sich zu 6000 Euro auf. In der Beziehung zu meiner Freundin kamen Spannungen auf. Sie rannte zur Disco, hatte andere Männer. Ich saß zu Hause und passte auf unser Kind auf. Wir trennten uns, ich war am Boden. Nach meinem Auszug wohnte ich ein halbes Jahr bei einem Kumpel im Stadtteil Merzdorf. Das konnte natürlich kein Dauerzustand sein. Ich klopfte bei der Mutter an. Der Bruder warf mich raus. Wohnungslos. Obdachlos. Geldlos. Arbeitslos. Perspektivlos. Haltlos. Eine Nacht im Sommer schlief ich auf einer Parkbank.
In meinem Leben und in meinem Kopf herrschte Unordnung. Meine Papiere, also die Unterlagen für den Hartz IV-Bezug hatte ich verschlampt. Mir war alles egal. Wozu noch leben? Meine Mutter riet mir: „Geh zum Deutschen Roten Kreuz. Die haben ein Obdachlosenheim in der Stadt.“ Das war am 25. April 2005. Ein Datum, das so fest in meinem Hirn eingegraben ist, als wäre dieser Tag erst gestern gewesen.
Die Verzweiflung und die Ausweglosigkeit trieben mich ins OLH, so nennen wir der Kürze halber das Obdachlosenheim.
Erstes Gespräch. „Sie brauchen eine Bescheinigung, dass Sie frei von ansteckenden Krankheiten sind.“
Frau Doktor Sch. stellte mir die Einweisung ins OLH aus. Mein Körper war nicht krank. Man machte mir Mut. Aber ich war am Boden zerstört. Wenn es keiner sah, weinte ich in die Kissen. Im Heim half man mir, den Ämterkram zu bewältigen. Meine Mutter half mir in den ersten Tagen mit jeweils fünf Euro aus.
Die Wirtschaftsleiterin und ein Mitarbeiter des Heims versuchten, mich moralisch aufzubauen. Sie hatten mich ins Übergangszimmer 103 gesteckt. Zusammen mit einem Bettnässer. Der Geruch bereitete mir Kopfschmerzen. Ich war froh, wenn ich draußen war und auf den Ämtern meine Angelegenheiten regeln konnte.
Mein Zustand änderte sich erst, als die „Chefin“ aus dem Urlaub zurückkam. Wir nennen sie so, weil sich ihr Name schwer aussprechen lässt und weil sie für jeden ein offenes Ohr hat. Auch für mich. Sie sucht für alle, die es wollen, eine Lösung der oft komplizierten Probleme. Und ihre optimistische Lebenshaltung überträgt sich auf alle, die mit ihr zu tun haben. Sie ist eine Mutmacherin.
Um helfen zu können, muss man die Ursachen der jetzigen Situation kennen. Ich wollte ihr sagen, wer ich bin, und ich sprach mir von der Seele, was mich bedrückte.
„Ich habe nach der Wende als Eisenflechter gearbeitet. Ein Eisenflechter, das ist einer, der Knochenarbeit verrichtet und hohe Verantwortung trägt. Ein Architekt plant einen Bau. Wenn aber der Eisenflechter statt der vorgesehenen 28er Eisen nur 20er oder 18er nimmt, dann stürzt der Bau ein und es passiert viel Schlimmes. Wir bauen Wände, Decken, Brücken. Unsere Arbeit wird immer durch einen Statiker abgenommen. Der sieht sofort, ob man gut gearbeitet hat. Den „Kaufland-Komplex“ in Riesa habe ich mitgebaut. Und bei Kronospan in Lampertswalde war ich am Rohbau für den zweiten Produktionsstrang beteiligt. Gläserne Manufaktur in Dresden, die Altmarktgalerie in Dresden, Brücken … ich kenne mich aus, habe Spuren hinterlassen. Die Chefs sahen, dass ich was kann. Sie und die Arbeiter kamen oft aus Albanien und Jugoslawien. Ich wurde Vorarbeiter. Polier. Von der reinen Knochenarbeit zur Verantwortung. Die Arbeit erforderte gute Organisation und Planung. Das Eisen musste in der richtigen Stärke an die richtigen Stellen gebracht werden. Das Geld für das verlegte Eisen wurde unter den beteiligten Arbeitern aufgeteilt. Erst bekamen wir 1000 DM für eine Tonne verlegtes Eisen. Später nur noch 120 Euro. Beim Verlegen kommt es auf den Durchmesser des Eisens an. Bei 20er und 28er Eisen haben wir mit 20 bis 30 Leuten bis 120 Tonnen geschafft. Wir haben rangeklotzt, und dann zahlten die Chefs nicht, oder es gab nur einen Abschlag von 150 Euro. Überstunden wurden nicht mehr bezahlt. Zweimal habe ich eine Firmeninsolvenz miterlebt. Bei der ersten wurden 3900 Euro nachgezahlt. Im zweiten Fall war der jugoslawische Chef in seine Heimat geflüchtet. Seine deutsche Ehefrau konnte nicht belangt werden. Ich habe 6000 Euro eingebüßt, ich, das Sonntagskind. Es wurde lediglich ein halber Monatslohn bezahlt.“
Na, da hatte ich mir mal einiges von der Seele gesprochen.
Als sie im Obdachlosenheim sahen, dass ich den Willen hatte, wieder ein „normales“ Leben zu führen, bot man mir nach einigen Monaten den Einstieg ins betreute Wohnen an. Eine Sozialpädagogin schrieb eine Beurteilung, sah, dass ich früher und auch heute keine Alkoholprobleme hatte.
„Normalität“ bedeutete aber: Rückkehr in eigenen Wohnraum. Nur: Wer sollte mir, dem Verschuldeten, eine Wohnung geben? Woher die Kaution nehmen?
Die „Chefin“ riet mir, monatlich 100 Euro zu sparen. Als ich die Hälfte der Summe zusammen hatte, konnte ich die Kaution in Raten abzahlen. Mit ihrer Hilfe habe ich auch begonnen, meine Schulden zurückzuzahlen. Die Schuldensumme war zwischen mir und meiner ehemaligen Freundin aufgeteilt und auf je 3000 Euro festgelegt worden. Auch wenn es schwerfällt, jeden Monat begleiche ich 25 Euro. Nun sehe ich Licht am Ende des Tunnels und habe die Restschuld auf 1600 Euro reduziert.
Ich bin raus aus dem Obdachlosenheim. Jetzt habe ich eine eigene Wohnung und bezahle regelmäßig die Miete.
Mein Sohn ist sechs Jahre alt. Alle zwei Wochen hole ich ihn zu mir. Wir haben ein prima Verhältnis zueinander.
Der OHL-Leitung bin sehr dankbar. Da ich noch immer nicht gut mit Geld umgehen kann, bat ich darum, mir mein Geld einzuteilen. Auch bei der Einrichtung der Wohnung wurde mir geholfen. Außerdem bekam ich für neun Monate einen 1,50-Euro-Job, ebenfalls beim Deutschen Roten Kreuz. Das ermöglicht mir das weitere Sparen und die Fortführung des Schuldenabbaus. Da ist die „Chefin“ streng hinterher. Im Rahmen meiner Tätigkeit bin ich Teil des Trupps, der in unserer Stadt die Altkleidersammlung durchführt.
Warum ich trotz eigener Wohnung immer noch oft im OLH zu sehen bin?
Na, ich will nicht allein zu Hause herumsitzen. Ich treffe mich mit fünf, sechs Bewohnern des Heimes außerhalb des Hauses. Das sind Leute, mit denen ich mich gut verstehe und über alles reden kann. Wir haben etliche Parallelen in unseren Lebensläufen entdeckt.
Meine Dankbarkeit gegenüber dem DRK versuche ich durch ehrenamtliche Mitarbeit auszudrücken. Wenn im Seniorenklub gegrillt werden soll, bin ich als Helfer zur Stelle und beim Katastrophenschutz als Akteur beim Zeltaufbau. Das alles macht mir Freude, weil ich dort Anerkennung finde.
Die zwei Jahre im Obdachlosenheim haben mich geprägt. Ich sagte zu meinen Kumpels , dass ich dort mehr gelernt habe als sonst in zehn Jahren. Eine Lehre begleitet mich auf allen Wegen: Mache nie mehr Schulden!
Meine große Hoffnung ist, eines Tages wieder „richtige“ Arbeit zu bekommen. Leider habe ich bisher auf alle meine Bewerbungen nur Absagen bekommen.
Aber ich bin doch an einem Sonntag geboren.
Bin ein Glückskind. Oder?
Das Schicksal Obdachloser wird von der Öffentlichkeit oftmals falsch wahrgenommen. Diese literarische Gestaltung eines Lebenslaufs soll am konkreten Beispiel zeigen, wie der Abstieg aus einem „normalen“ Leben in die Obdachlosigkeit mit all ihren Problemen verlaufen kann. Ich habe den Wohnungslosen 2007 getroffen und interviewt, um seine Lebensgeschichte nacherlebbar zu machen.
Letzte Aktualisierung: 25. April 2021