Börsenfieber am Großenhainer Gymnasium
Wie die „Aktienhaie“ dem „DAX“ zu Leibe rückten
Sie reden von REX, von NEMAX 50 und TUBOS WARRANT. Auch von der „Volatilität“ (Schwankungsbreite) der Kurse. Zu ihren Favoriten gehören internationale Telekom- und Softwareaktien wie Nokia, Ericsson und SAP. Die zum belanglosen Gruß verkümmerte Frage „Wie stehen die Aktien?“ hat für sie ihre Bedeutung im Wortsinn zurückgewonnen. Sie spekulieren an der Börse, verzeichnen Gewinne und Verluste.
SIE – das sind die 49 Teilnehmer des Großenhainer Gymnasiums, die in 18 Spielgruppen am Planspiel Börse der Sparkasse vom 27. September bis zum 7. Dezember 1999 teilnahmen. Insgesamt beteiligten sich 99 Spielgruppen aus allgemein- und berufsbildenden Schulen des Bereichs Riesa-Großenhain.
Die Erwartungen der Gymnasiasten waren groß, stellte doch ihre Schule in den letzten Jahren schon zweimal die Siegermannschaft. Bundesweit gingen diesmal mehr als 53 000 Spielgruppen an den Start. Neben „alten Hasen“ schickte das Großenhainer Gymnasium auch absolute Neulinge aufs Börsenparkett. Die Teams drückten ihren Optimismus in Spielgruppennamen wie „Aktienhaie“, „4 gewinnt“, „Three Pack“ oder „Der Rubel rollt“, aus. Die Besonderheit der diesmaligen Wettbewerbsteilnahme bestand darin, dass die 18 Schüler des Leistungskurses Geschichte L1 der Abiturstufe ihre Mitwirkung als Unterrichtsprojekt gestalteten. Damit wird ein Lehrplanbezug gesichert, der Unterricht in neuer Form realisiert, Teamgeist und Verantwortungsbewußtsein entwickelt, und es werden neue – für das Leben in der Gesellschaft notwendige – Kenntnisse erworben und Erfahrungen gesammelt. Das Projekt ist also einer pädagogischen Zielstellung unterworfen, deren Realisierung vorbereitet und abgerechnet wird.
Beim „Planspiel Börse“ handeln die Teilnehmer ohne Risiko. Sie erhalten die Chance, kostenlos erste Erfahrungen mit den Wertpapiermärkten zu sammeln. Das geschieht unter praxisgerechten Bedingungen. Abgesehen davon, dass nur mit einem fiktiven Kapital umgegangen wird, verläuft das Spiel marktnah.
Während in den letzten Jahren ein fiktives Startkapital von 100 000 DM zur Verfügung stand, waren es nun 50 000 Euro. Die Spielgruppen konnten deutsche oder internationale Aktien, Optionsscheine, Investmentfonds oder festverzinsliche Wertpapiere kaufen und verkaufen. Neu ist dabei der Aspekt, dass man nicht mehr nur auf der Basis des Handels an der Wertpapierbörse Frankfurt, sondern im internationalen Rahmen tätig werden kann: Ausser den Euro-Börsen Paris und Madrid konnte auch der Nicht-Euro-Platz London mit seinen täglich schwankenden Pfund-Sterling-Kursen genutzt werden.
Insgesamt waren 120 Werte verfügbar.
Die Sparkasse stellte den Wettbewerbsteilnehmern eine Broschüre mit den Teilnahmebedingungen, der Wertpapierliste und einem Überblick der handelbaren Werte bereit. Dazu notwendige Formulare wie den Depot- Eröffnungsantrag, Kauf- und Verkaufaufträge.
Die Sparkasse schickte den Spielgruppen dann die jeweiligen Auftragsabrechnungen und den Depotbestand zu.
Mit ihrer Teilnahme erwerben die Schüler Erfahrungen für spätere eigene Geldanlagen. Während der erzielte Gewinn natürlich Freude auslöst, erwächst aus dem Verlust der Wille zur intensiveren Beschäftigung mit der Materie, denn noch trifft es nicht das eigene, private Geld, das verloren geht. Es werden nach genauen Analysen Gewinnstrategien entwickelt, die den für ein Bestehen in der Marktwirtschaft an Bedeutung zunehmenden Grundsatz „learning by doing“ in eine Persönlichkeitseigenschaft umwandeln.
Neben den Spielbedingungen hatten die Projektteilnehmer der genannte 12. Klasse eine Dokumentation im Prozess des Handelns an der Börse anzulegen, die aus didaktischer Sicht geplant war und Aktivitäten im Sinne der Zielstellung auslöste. So war unter anderem bei Wertpapierkäufen und -verkäufen nachzuweisen: Wann erfolgte der Handel? Höhe der Geldsumme? Welche Papiere wurden gekauft / verkauft? Warum diese? Zwischenstände? Wie haben Sie sich fortlaufend informiert? Auch: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie für Ihren künftigen Wertpapierhandel?
Das Ganze machte auch Sinn, weil das Entstehen, die Entwicklung und die gegenwärtige Rolle von Aktiengesellschaften und anderen Konzernformen Gegenstand des Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterrichts sind und hier der Schritt von der Theorie zur Praxis gegangen und der Unterrichtsstoff persönlich bedeutsam wird. Damit ändern sich oft Einstellungen zum Unterricht und zur Schule. Schüler werden vom passiven Zuhörer zum aktiven (Mit-)Gestalter des Unterrichts.
Was hätten Sie gedacht, wenn im September ein achtzehnjähriger Schüler zu Ihnen gekommen wäre mit dem Vorschlag, ihm 100 000 DM (50 000 Euro) zu überlassen, er würde Ihnen nach neun oder zehn Wochen 140 000 DM (etwa 70 000 Euro) zurückgeben?
Sie hätten gelacht? Oder die Polizei gerufen?
Nun, die „Aktienhaie“ unter ihrem Spielgruppenführer M. Schreier haben in der erwähnten Zeit mit 50 000 Euro spekuliert und landeten am 7. Dezember mit einem Depotbestand von 69 367,71 Euro auf dem 2. Platz (bei 99 Konkurrenten). Die Dokumentation dieser Gruppe, der noch M. Staudt und S. Peschel angehörten, weist durchdachte, sinnvolle Kauf- und Nachkaufbegründungen auf. Aktienentwicklungen sind grafisch fixiert. Käufe werden nur nach intensiver Beschäftigung mit dem jeweiligen Unternehmen (Singulus Technologie; SAP; Daimler Chrysler; Deutsche Telekom) vollzogen.
Der 2. Platz im Großenhain-Riesaer Börsenspiel bedeutete gleichzeitig Platz 1390 unter den 53000 in der gesamten Bundesrepublik.
Auffällig in der Endabrechnung sind zwei Dinge:
1. Von den 6 Spielgruppen des Unterrichtsprojekts haben 5 in dem kurzen Zeitraum Gewinne erzielt:
- Platz 2 „Aktienhaie“ (M. Schreier) s.o.
- Platz 35 „ Die drei Lustigen“ (D. Goldbach): 53 459,87 Euro
- Platz 55 „ Sisters“ (T. Münch): 51 832,87 Euro
- Platz 63 „Trouble- Maker“ (M. Berger): 51 132,49 Euro
- Platz 68 „ Levitiküsse“ (K. Giesder): 50 737,06 Euro.
- Lediglich unter Platz 87 erreichte die Gruppe „ Spekulatius“ einen knappen Verlust (49 024,19 Euro).
2. „Freie“ Schüler, die bereits im letzten Jahr teilnahmen, schnitten auf Grund ihrer Erfahrungen sehr gut ab: „ Vier gewinnt“ (56 077 Euro), „ Three Pack“ (54 880 Euro), „Der Rubel rollt“ (52 747 Euro), „The B- Clan“ (52 734 Euro), „Börsenkracher“ (52 501 Euro), „Die Wallstreet Boys“ (51 738 Euro).
Allen ist gemeinsam, dass sie sich Zugang zu wichtigen Informationsträgern verschafften und den sinnvollen Umgang mit ihnen erlernten. Im Mittelpunkt standen der ARD-Videotext, die Endlosschleife auf N-TV, der tägliche Börsenbericht der „Sächsischen Zeitung“ und das „Handelsblatt“.
Die Dokumentationen wurden mit dem Computer erledigt, so dass sich vielfältige Anwendungsmöglichkeiten erworbenen Wissens und angeeigneten Könnens in fachübergreifendem Rahmen ergaben.
Für viele Schüler – vor allem Mädchen aus der 12. Klasse – war das die erste Begegnung mit der Börse und ein erster Einblick in die Schwierigkeiten und Mühen erfolgreicher Geldanlagen im späteren Leben. Die gewonnenen Erfahrungen sind heute schon Geld wert.
Das erfolgreiche Abschneiden der Gymnasiasten wird auch im Jahr 2000 ihre Mitschüler animieren.
Natürlich sind noch nicht alle Reserven ausgeschöpft, und manches könnte aus pädagogischer Sicht noch besser laufen:
- Wenn der Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer nicht die Gelegenheit hat, beide Fächer im gleichen Kurs zu unterrichten, erschwert das die erfolgreiche Umsetzung pädagogischer und didaktischer Ziele.
- Die Sparkasse kommt ihrem seit drei Jahren gegebenen Versprechen nicht nach, auch dem Projektleiter die Endauswertung des Planspiels zuzustellen. Das gilt auch für den wiederholten Wunsch der Schule, ihr ein Duplikat der Siegerurkunden (Plätze 1-3) zu überlassen.
Bei alledem: Der Spaßfaktor kam nicht zu kurz. Und ein ausgeprägter sportlicher Siegerehrgeiz trieb die 2 Spielgruppen in die Gewinnzone.
Übrigens – die „Aktienhaie“ erleben im Januar einen abenteuerlichen Tag in Altenberg. Eine Bobfahrt eingeschlossen.
Letzte Aktualisierung: 13. September 2020